Archangelsk, Russland
Teil I
Also, die Zeit ist offenbar gekommen.
Unsere Fahrt nach P…B… ist mehr oder weniger erfolgreich zu Ende gegangen, doch nach den Gesprächen mit den Verwandten brauchte meine Seele Erholung.
Bin daher auf dem direkten Wege nach Hause zurückgekehrt, genauer gesagt – in meine Höhle gekrochen, um zu sich zu kommen und zu regenerieren. Es war gut, dass die Zeit es erlaubte mit sich selbst und mit den eigenen Gedanken zu bleiben …
Doch davon ist nicht die Rede, auch wenn im Leben alles seine Gesetzmäßigkeit hat.
Alles begann mit der Rückkehr von Lida und Großmutter Klawa nach Hause. Ich erwartete sie mit gewohnter Ungeduld zu Hause, obwohl ich sehr müde war. Die Anrufe und die Bitten, so bald wie möglich nach Hause zu kommen, nahmen fast alle Abende in Anspruch. Und nun, endlich …
Alltägliche Geschichten, die sich von Jahr zu Jahr wiederholten, die gleichen „Neuigkeiten“, die gleichen Probleme; welche, die es gab, die es gibt und aller Wahrscheinlichkeit nach auch wieder geben wird. Nur eine Geschichte, eher Neuigkeit aus Lidas Erzählungen klang nach: die beeindruckende Begegnung im Zug. Eine zufällige, fast eine unmögliche, und doch Begegnung. Die Begegnung mit einer ungewöhnlichen Frau, die sie mit ihren Geschichten und - wie ich es verstehe - mit ihrer Wahrnehmung der Umwelt beeindruckt hat. Doch all meine Fragen und Nachforschungen darüber, wer es ist und was es ist, blieben ohne eine vernünftige Antwort. Lidas Zustand glich dem eines Schocks (eine andere Definition finde ich in meinem begrenzten Wortschatz nicht)! Es war interessant, sie zu beobachten. Mich verblüffte der riesige Enthusiasmus (für sie bei allem sehr eigen, nun aber ums Hundertfache angewachsen), den sie entwickelte, um ein Treffen dieser Frau Namens Natascha mit uns, den unglücklichen, kranken Frauen mit vielen Komplexen, zu organisieren. Mir schien, sie würde alle Hindernisse überwinden, um dieses Treffen stattfinden zu lassen. Zu unserem aller Glück ergaben sich keine unüberwindbaren Schwierigkeiten.
Nun, dieses Treffen fand statt.
Um ehrlich zu sein, mir schien, es wird mich nicht berühren. Wie gewohnt: ich werde mich wundern, nachdenken und mich beruhigen. Dieses Mal war alles ungewöhnlich. Tatsächlich, ich wunderte mich. Ich denke immer noch nach und vielleicht wird es notwendig sein, dieses noch länger zu tun.
Doch Ruhe finden, das wird wohl nicht mehr eintreffen.
Die Begegnung dauerte drei Stunden, doch die Zeit kam mir drei Mal kürzer vor. Der Informationsfluss, objektiv doch schwer verständlich (für mich zumindest), packte mich. Meine Augen wurden quadratisch, aber mein Verstand nahm alles sofort und ohne Widerrede an. Kurz gesagt (auch wenn es schwer ist): Alles, worüber nachgedacht und doch aus Angst nicht ausgesprochen, war gesagt! Genau das und genau so. Über die Religion, den Glauben, über unseren Platz im Leben und in dieser Welt. Alle meine Zweifel und Versuche, selbst klar zu kommen, zerschmetterten an meinem Unverstand. Und vielleicht brannte ich nicht stark genug darauf, etwas zu verstehen … Wer konnte mir und solchen wie ich helfen?
Kleine Weisheitstropfen drangen seinerzeit in mein Unterbewusstsein durch meine Großmutter, obwohl sie über ihren Glauben in Gott nie gesprochen hatte. Sie lehrte mich und meinen Bruder langsam und sehr weise. So weise, dass ich erst als erwachsene Frau es verstand. Es waren Zeiten, dass das Wissen über Christus, das Evangelium und die Kirche zu furchtbaren Verfolgungen führen konnte. Doch die Erziehung in der Familie trug offenbar Früchte. Auch wenn der Boden für die Aussaat nicht geeignet war, so doch für die Ernte. Ein langer und qualvoller Weg der Selbsterkenntnis begann in der Kindheit und erst jetzt erschien die Hoffnung alles zu entziffern und den Sinn des Lebens zu verstehen.
Natascha sprach über all das (so verstand ich sie), und es schien mir, der Dialog findet nur zwischen ihr und mir statt. Auch wenn ich nur zuhörte und zuschaute! Zwei oder drei Blicke ihrerseits in meine Augen, dabei sprach sie davon, dass einige von uns sich öffnen würden.
Sie sah mich, und ich mich selbst in ihren Augen.
So begann alles.
Die nächste Begegnung mit meiner Tutorin - so möchte ich sie nennen, und ich hoffe sie hat nichts dagegen – fand am 2.Januar 2006 statt. Ich wartete, versuchte vorauszuschauen, was passieren wird und, um ehrlich zu sein, fürchtete mich etwas. Gerade weil ich Erfahrungen im Umgang mit einer Nonne habe – und Natascha gehört zu diesen Menschen. Ich weiß, es ist zwecklos vor diesen Menschen eigene Gefühle und Gedanken zu verbergen. Das Vertrauen führt zum Vertrauen, das ist alles, um es kurz zu sagen. Ohne die Gedanken zu vertiefen!
Das Gespräch war kurz, um genau zu sein, Natascha stellte Fragen und ich beantwortete sie.
Ich denke, sie verstand alles, was mich betraf. Wie ist doch unser Leben reich und üppig, dass 3-4 Fragen genügen und der ganze Mensch liegt auf der Hand! Weiß nicht, wie es anderen Projektteilnehmern ergangen war, doch ich schämte mich und ich war peinlich berührt über meine Gedanken über mich selbst. Ich habe mich nie mit Selbstvernichtung beschäftigt, doch hier eröffnete sich ein trauriges Bild von meinem Dasein. Also, ich arbeite, es scheint, ich bringe der Gesellschaft irgendwelchen Nutzen, doch nicht nach vollen Kräften, Hauptsache es reicht zum Überleben. Einerseits ist es auch nicht schlecht – es gibt keine Eitelkeiten … Das private Leben, ich nehme es so an wie es gekommen ist, ich verändere nichts. Bin zufrieden mit dem, was ist, was hätte kommen können, aber nicht stattfand. Frühkindliche Komplexe und Ängste existieren in mir bis jetzt, ich habe mit ihnen meinen Frieden gefunden, und alles was neu hinzugekommen ist, soll sie auch rechtfertigen. Herr, es soll alles nach deinem Willen geschehen, nicht nach meinem! So soll es sein, Herr, segne mich auf diesem Weg.
So beginnt es also: Mit der Selbsterforschung und dem sich daraus ergebenden Wunsch nach Veränderung.
Und die Veränderungen hatten bereits begonnen. Weiß nicht, was der Grund dafür ist: ich selbst oder meine Tutorin (wahrscheinlich beides!), doch der Prozess begann.
Falls konkrete Fakten notwendig, bitte: nach fünf Tagen hörte ich mit dem Rauchen auf, abends lockt mich der Fernseher nicht mehr wie früher. Sie werden sagen: welch Kleinigkeiten, das kann doch jeder schaffen, wenn er will. Dann bitte, tun sie es! Ich möchte nicht mehr rauchen, und das freut mich außerordentlich. Ich möchte nicht mehr vier Stunden nacheinander auf dem Sofa liegen und den Kasten anstarren, und dieses freut mich auch außerordentlich. All diese „talks“ und „shows“ scheinen mir dümmlich zu sein, sie verdienen es nicht von mir beachtet zu werden. Es gibt Zeit zum Lesen und nun weiß ich auch, was ich lesen möchte! Bemerke immer häufiger ein seliges Lächeln auf meinem Gesicht, genauer: Es lächeln meine Augen, Wangen, Lippen …
Manchmal, wenn keiner in meiner Nähe ist, lache ich sogar darüber, denn für andere müsste dies alles doch sehr seltsam erscheinen. Kurz gesagt, meine Seelenstimmung verändert sich langsam zum Besseren.
Unterstützt wird dies durch die Arbeit mit Natascha und selbständiges Üben. Es fällt mir schwer, Gefühle und Empfindungen, die während dieser Praxis entstehen, in Worte zu fassen. Viele sind es und sie sind sehr unterschiedlich. Das Wesentliche aber ist: ich gebe mich ganz hin, vertiefe mich wie in einen grenzenlosen Strom, bewege mich in mir, nehme mich als ein leibliches Wesen wahr und entdecke langsam, vorläufig allein für mich – meine eigene Seele. Eigentlich gibt es keine Eile hinaus zu schreien, was mit mir geschieht, darüber zu flüstern – dazu habe ich allerdings jetzt schon Lust. Was ich hiermit auch tue. Glauben Sie, es wäre einfach, eigenen Gefühlen, wenn auch ungeschickt, einen Ausdruck zu verleihen? Die bloße Tatsache, dass ich dies alles schreibe, gleicht einem Wunder, jedenfalls aus meiner Sicht.
Oh, diese Augen vor mir, Musik und Bewegung nach vorne, nach oben!!!
Die vorletzte Sitzung mit Natascha begann damit, dass ich, zweifelnd und verlegen, ihr meinen Brief mit dem verschlüsselten Titel "Das Kennenlernen" übergab. Ich habe mich entschieden, meine Wünsche nicht wie üblich zu betäuben, sondern mich dem ersten Impulshinzugeben. Einen Tag lang habe ich mich gequält, war emotional hin und her gerissen und nun – hier ist die Antwort.
Keiner verstand mich jemals so, nicht einmal ich mich selber.
Zu schreiben und vorauszuahnen, dass man verstanden wird – löst Freude in mir aus, die an ein Genießen herankommt. Jetzt kann mich vermutlich keiner mehr bremsen. Nur weiß ich nicht, für wen ich schreibe. Allein, wenn‘s auch für mich nur wäre, auch das – nicht schlecht. Sich nicht zu äußern prompt und stets zur warten, bis eine bessre Gelegenheit sich zeigt, im Schneckenhaus sich zu verkriechen ist nichts für mich. Ab jetzt. Geheimnisse, Gedanken, Wünsche – das Eigne vertrau‘ ich dem Papier (im Grunde: mir, das wollt‘ ich sagen!). Der Herr, er wird es fügen. Und offen ist die Welt.
So ist es gut, schon lächle ich!
Das Lächeln kam, weil ich beim Lesen dessen, was geschrieben, Reime ahnte. War‘s nur ein Schein, ein Trug?
Und in der Tat – die Töne stimmen, klingen. Mein großer Wunsch: Es möge dieses währen, und dass mein Weg zum Angemessenem mich führt.
Mag sein, dies alles ist vergänglich, allein die Trauer weicht, die Seele singt. Was ist mit mir, kann jemand dies erklären? Hell ist’s in mir und freudig, ich will schweben, will hoch im Fluge über mich mich heben und über die Geschäftigkeit der Welt.
Dieser Zustand ist erschreckend, solange er nicht verstanden und bis zum Grunde durchlebt ist!
Dem ist nichts hinzuzufügen, was folgen mag – das wird sich zeigen!